Wollhaus Oberzwirgi – Berghütte zum Woll-fühlen
Im Wollhaus Oberzwirgi im Berner Oberland in der Schweiz wohnen und schlafen die Gäste rundum in Schafwolle: Duvets, Teppiche, Kissen, Lampenschirme, Badezimmeraccessoires und sogar die Isolierung in den Wänden – alles aus dem behaglichen Schweizer Naturstoff.
"Wer erst einmal selbst in einem Schafwollduvet geschlafen hat, ist auf ewig bekehrt."
Meine Gastgeberin ist längst ins Tal zurückgefahren. Nun bin ich für ein paar Tage mutterseelenallein hier oben im Wollhaus Oberzwirgi am Eingang des wildromantischen Reichenbachtals. Meine einzige Gesellschaft sind acht Schafböcke, die draussen in einer eingezäunten Parzelle darauf warten, ihren Daseinszweck auszuleben: im Herbst Hunderte von Mutterschafen zu beglücken, sobald diese von der Gletscheralp zurückkehren werden, wo sie mit ihren Lämmern den Sommer verbringen. Ich solle mir keine Gedanken machen, hatte mich Ruth Brog beruhigt, wenn der schöne, braungefleckte Bock über den Zaun gesprungen komme, um mich zu begrüssen. Der neugierige Ausreisser springe bald wieder hinter die Einzäunung zurück. Und so geschieht es dann allabendlich.
Im Spätsommer wird es hier abends bereits sehr kühl. Ich sitze mit meinem Abendbrot – oder »Znacht«, wie man hier sagt – aus Baguette und Käse auf der schlichten Holzbank vor der Hütte, bis es stockdunkel und ungewohnt still wird. Zeit, den Schafböcken gute Nacht zu sagen. Drinnen im Wohnraum feuere ich den Pellet-Holz-Ofen an. Ich lege eine alte Schallplatte aus der Brog’schen Sammlung auf und kuschle mich mit einem Glas Rotwein in die selbstgenähten Schaffellkissen auf dem massgezimmerten Liegesofa. Das Holz für das in die Nische eingepasste Möbelstück wurde aus der Aussenwand herausgesägt. So entstand gleichzeitig das schmale, lange Fenster über dem Esstisch, das dort wiederum mehr Licht hereinlässt.

Es war einmal ein alter Stall …
Ursprünglich wurde Oberzwirgi Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Stall gebaut und im Laufe der Jahre zu einem kleinen Wohnhaus erweitert. Nach jahrelanger Pacht erwarben Ruth und Heinz Brog das Haus 2003 und nutzten es als Wochenend- und Ferienhaus für die Familie. Das umliegende Land bewirtschafteten sie mit ihren Schafen und Eseln.
Im Sommer 2015 begann der Umbau zum heutigen »Wollhaus«, einem hübschen Schaukasten für die vielseitigen Verwendungsmöglichkeiten des Schweizer Naturstoffs Wolle. Ruth Brog und ihrer Familie war es dabei wichtig, fast ausschliesslich Wolle aus eigener Produktion zu verwenden. Die Wollhandwerkerin und ihr Mann stellen im Wollreich unten im Tal eine eigene Kollektion von Bettdecken und Kissen aus Schafwolle her. Zur Wollreich-Kollektion gehören ausserdem Wohnaccessoires, Filzpantoffeln, Peeling-Seife und andere Produkte aus Wolle.
Die Idee, die Alphütte Oberzwirgi zu einem Ferienhaus umzubauen, das rundum der Schafwolle gewidmet ist, kam aus einer einfachen Überlegung: Wenn Kunden nur Wolle innig erleben könnten, am eigenen Leib spüren, wie wohlig es sich in dem kraftvollen Material schläft und lebt … Ruth Brog ist sich sicher: »Wer erst einmal selbst in einem Schafwollduvet geschlafen hat, ist auf ewig bekehrt.«
Jedes Detail erzählt von Schafen und Wolle
Auf unserer Tour durch das Wollhaus, bevor sie mich allein hier lässt, erzählt mir die Gastgeberin leidenschaftlich von ihrer Vision für das Ferienhaus. Jeder Raum der zweistöckigen Hütte zeigt auf unterschiedliche Weise die Geschichte der Schafe, ihrer Wolle und deren unterschiedlichste Verwendungsmöglichkeiten.
Die gesamte Isolierung der Aussen- und Innenwände sowie des Dachs besteht aus Wolle. In der Wand im Flur ist ein kleines Fenster eingebaut, durch das man das Innenleben der Wände des Wollhauses sehen und anfassen kann.
Selbst die Badezimmeraccessoires sind hier aus Wolle gefilzt. Mehr noch, für die großflächigen Steinplatten im Badezimmer hat Ruth Brog die Umrisse der majestätischen Gipfel ihrer eigenen Schafalp gezeichnet und die Kontur aus regionalem Granit ausschneiden lassen. Das anthrazitfarbene Bergpanorama hebt sich nun kontrastiv von der weissen Wand ab. Nur eines der vielen kreativen Details, die das Wollhaus zu einem ganz besonderen Refugium machen.
In der Küche, sagt Ruth Brog, habe sie selbstverständlich weniger mit Wolle arbeiten können. Dafür installierte die passionierte Hobbydekorateurin über der Küchenzeile moderne, quadratische Acrylbilder als eine Art Fliesenspiegel. »Das sind Fotos von unseren Schwarznasenschafen auf unserer Alp, mit dem Rosenlauigletscher im Hintergrund«, sagt sie.
Beim Weitererzählen lotst mich Ruth Brog von der offenen Küche in den Wohnraum. »Bei den Möbeln wollte ich natürlich auch sehr viel mit Wolle machen, um zu zeigen, dass es ganz viele unterschiedliche Wollarten gibt«, sagt sie und deutet auf die beiden Hocker aus Altholz vis-à-vis dem modernen, schwarzen Ofen. Die Sitze sind mit zotteligen, naturweissen Schaffellen überzogen. »Die Schwarznasenwolle ist typischerweise rau, aber für Wollaccessoires sehr geeignet, weil sie auch so schön aussieht«, sagt sie über die langhaarige Wollsorte. Bei Sitzflächen, auf denen man auch mal mit nackten Beinen sitzt, arbeitet sie deshalb lieber mit Merino, wie beispielsweise bei der Sitzgruppe um den Esstisch. »Da habe ich die Handweberei unten im Tal mit einbezogen«, berichtet die Wollexpertin und meint damit das Heimatwerk Haslital, das als Kennzeichen einen Stern auf seine Produkte setzt: »Der Haslistern, das ist für uns ein sehr altes Wollhandwerk, und ich arbeite eng mit den Leuten zusammen.«
Sommer wie Winter ein Bergparadies
Von der Balkontür aus schauen wir schliesslich dem Regen draussen zu. »Wenn man von hier aus weiter ins Tal hineinfährt, liegt dort ein Wanderparadies und die Gletscherschlucht«, beschreibt die Hausherrin. »Im Winter kann man mit dem Schlitten bis zum Haus fahren. Ausserdem gibt es viele Schneeschuhtouren, und man ist von hier aus schnell mit dem Auto im Skigebiet.« Das sei das Schöne an dieser Gegend: »Es gibt auf kleinem Raum ganz viel zu tun.«
Gute Nacht, schaf schön
Zu später Stunde mache ich mich über die schwebende Holzstiege hinauf in den ehemaligen Heuboden, wo im hinteren der beiden Schlafzimmer mein himmlisches Wollbett auf mich wartet: Die Bettdecken sind mit flauschigem Vlies aus 100 Prozent Schafwolle gefüttert. Ruth Brog hatte Recht: Dank der wärmeausgleichenden Eigenschaften der Schafwolle ist mir während der ganzen Nacht angenehm warm, aber niemals zu heiss unter dem Duvet. Auch die mit Wollkügelchen gefüllten Kopfkissen und das Lagerungskissen aus dem Wollreich fühlen sich traumhaft bauschig an, ohne zu beulen. Der Teppich und die Lampenschirme sind ebenfalls aus der hauseigenen Schafwolle gewebt.
Ruth Brog hatte mir erzählt, dass beim Umbau des Heubodens hinter dem Holz Zeitungen aus dem Jahr 1928 zum Vorschein kamen. Jetzt hängt in meiner Schlafkammer eine originelle Collage aus diesen gedruckten Artefakten, darunter auch ein Zeitungsartikel, der über die faulenzende moderne Frau lamentiert. Meine vergnüglich unzeitgemässe Nachtlektüre.
Mystischer Morgen im Wollhaus
Ich wache sehr früh auf. Die Morgenstimmung ist magisch: Dichter Nebel umhüllt das Wollhaus. Jenseits der Gruppe von Nadelbäumen, die ich unterhalb des Balkons noch ausmachen kann, verschwindet die Landschaft im weissen Schleier. Das Tal, die gegenüberliegende Bergkulisse, die wunderbare Aussicht auf das Skigebiet Hasliberg: alles gänzlich unsichtbar, weggezaubert von der Natur. Auch meine wollenen Compagnons sind im Nebel abgetaucht. Dem Gebimmel ihrer Halsglocken nach können die Böcke jedoch nicht weit sein. Der dichte Dunst lichtet sich den ganzen Tag nicht. Die perfekte Atmosphäre, um am loderndem Ofen zu schreiben.